Der Anna-Haag-Preis 2023 geht an die in Ettlingen lebende Autorin Grit Krüger für ihren 2023 im Kanon Verlag erschienenen Debütroman „Tunnel“. Der vom Förderkreis der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Baden-Württemberg jährlich verliehene und mit 10 000 Euro dotierte Anna-Haag-Preis löst den seit 1981 vergebenen Thaddäus-Troll-Preis ab und fördert Autorinnen und Autoren, die am Beginn ihrer literarischen Laufbahn stehen.
Grit Krüger wurde 1989 in Erfurt geboren und studierte Komparatistik und Filmwissenschaft in Frankfurt am Main. Der ausgezeichnete Roman „Tunnel“ erzählt aus der Perspektive von vier unterschiedlichen Figuren von Menschen am Rand der Gesellschaft, die sich trotz ihrer prekären Lebenssituation nicht entmutigen lassen: einer alleinerziehenden Mutter, ihrer kleinen Tochter, ihrem Liebhaber und dem Bewohner eines Pflegeheims. Schauplätze sind das Sozialamt, eine Wohnung, die sich im Winter nicht heizen lässt, das Hinterzimmer einer Kneipe und schließlich das Alten- und Pflegeheim, in dem Mascha mit ihrem Kind und ihrem Liebhaber über Weihnachten befristet unterkommt, weil sie dort eine vom Arbeitsamt vermittelte Stelle als Hilfskraft angenommen hat.
Die Autorin überzeugte die Jury mit dem raffinierten formalen Aufbau ihres Romans und der unkonventionellen, jeden Sozialkitsch vermeidenden Sprache, die sie für ihre Geschichte gefunden hat. Schon der Einstieg ist grandios: eine Szene in der Badewanne, die in Maschas Imagination zum Eintauchen in die Wellen des offenen Meeres wird. Doch es bleibt nicht bei dieser Konfrontation zwischen einer tristen Realität und der Sehnsucht nach einem anderen Leben. Je weiter der Roman voranschreitet, desto stärker durchdringen sich diese beiden Welten. Mit einem anarchischen Potenzial unterlaufen die Romanfiguren die festgefügten Regeln von Sozialbürokratie und Pflegeheimtristesse und folgen damit der Maxime, „die richtige Musik, die unter der falschen liegt“, zu entdecken.
Grit Krügers lakonische Sprache vermeidet jede Sentimentalität, ohne ihre Figuren zu denunzieren. Von den signalartigen Überschriften der einzelnen Kapitel über die Verwendung von Leitmotiven wie dem der Seefahrt und eingefügten Chorliedern wie in der griechischen Tragödie bis zu den Slapstick artigen Szenen im Pflegeheim beweist die Autorin, dass sie ihr Handwerk beherrscht und dabei über einen eigenen unverwechselbaren Ton verfügt, der nach Meinung der Jury zu großen Erwartungen für ihre weitere literarische Laufbahn berechtigt.

Foto: Felix Grünschloß